Straßenkinder in Indien
Es ist laut und geschäftig im Bahnhof von Vijayawada, einer Stadt mit
einer Million Einwohnern im Bundesstaat Andhra Pradesh. Reihenweise
kommen hier Züge aus ganz Indien an, 160 Langstreckenverbindungen
täglich. Die Züge bringen nicht nur Tausende von Reisenden, sie
bringen auch Straßenkinder. Waren es früher um die 20 pro Tag, sind
es mittlerweile bis zu 40.
Bharath weiß, wie sich das Leben auf der Straße anfühlt. 18 Jahre
alt ist der ehemalige Straßenjunge, vielleicht auch 17, das weiß er
nicht so genau. Kurze Haare, schmaler Schnurrbart, schwarze
Schirmmütze im Gesicht. Wir stehen an einem Treppenaufgang im Bahnhof.
Die Reisenden hasten vorbei. 20 Meter entfernt von uns dösen vier
Straßenkinder auf einem Wellblechdach über dem Bahnsteig. "Hier
schlafen die Kinder auch in der Nacht", sagt Bharath. "Sie horten
auch den Müll hier, die Plastikflaschen, die sie gesammelt haben.
Andere ruhen sich hier aus, nachdem sie in den Züge saubergemacht
haben. Denn hier braucht man keine Angst vor der Polizei haben.
Niemand kommt hierher." Die meisten der Straßenkinder von Vijayawada
kommen vom Land.
Die Eltern, Handwerker oder Bauern, haben ihre Arbeit
verloren, denn der wirtschaftliche Aufschwung Indiens ist in den Dörfern
nicht angekommen. Kinder werden vernachlässigt, geschlagen, zum Arbeiten
gezwungen. Die Flucht von zuhause erscheint vielen als letzter Ausweg.
1995 ist auch Bharath von zuhause weggelaufen. Da war er etwa sieben
Jahre alt. Vater und Mutter hatten sich getrennt, mit den neuen
Partnern der Eltern gab es nur Streit. Die nächsten fünf Jahre
verbrachte Bharath auf der Straße. "Morgens bin ich zum Bahnhof
gegangen und habe Züge geputzt, habe Geld verdient, 40, 50 Rupien",
erzählt er. "Dann bin ich zurück in die Stadt gegangen. Und habe mir
Drogen gekauft. Korrekturflüssigkeit. Eine Flasche für 20 Rupien. Ich
habe mir diese Flasche genommen und bin ins Kino gegangen."
Die Straßenkinder wischen mit ihrer Kleidung den Boden der Züge,
erbetteln sich so in ein paar Stunden 50 Rupien, das sind etwa
80 Cent. Andere verdienen Geld, indem sie Müll sammeln und an einen
Händler zur Weiterverwertung verkaufen. Plastikflaschen, Zeitungen,
Aluminiumschalen. Das Verdiente reicht aus, um sich
Korrekturflüssigkeit zu kaufen, als Chemikalie zum Schnüffeln.
Der Blick wird stumpf, das Leben erscheint erträglicher - doch es
ist gefährlich: "Es gibt so viele Jungen, die Drogen nehmen, über
einen langen Zeitraum. Und dann fallen sie aus den Zügen. Viele
haben dabei ihre Beine oder Hände verloren, so vielen ist das
passiert."
Dauernder Drogenkonsum, schlechte Ernährung, Schlafen und Leben im
Dreck fordern auch sonst ihren Tribut: Viele Straßenkinder leiden an
Krankheiten wie Typhus, Malaria oder Tuberkulose. Im Bahnhof steuert
Bharath einen bestimmten Bahnsteig an. Hier fahren nachts keine Züge.
Das Gleis gehört dann den Straßenkindern. Bharath erzählt: "Nur die
Straßenjungen und die Straßenmädchen kommen hier zum Bahnsteig. Sie
nehmen Drogen. Und die Jungen wollen Mädchen. Nachts. Und sie nehmen
sich die Mädchen hier." Die jungen Straßenmädchen arbeiten als
Prostituierte. Aids ist unter den Jugendlichen auf dem Vormarsch.
Darüber wird in Indien öffentlich kaum gesprochen.
Auch nicht darüber, das Vergewaltigungen unter Straßenjungen keine
Seltenheit sind. 20% der Kinder gaben bei einer Befragung an, durch
ältere Jungen vergewaltigt worden zu sein. Das Leben auf der Straße
ist hart, auch Prügel gehören dazu. In Vijayawada sind die Straßenkinder
in Gangs organisiert. Das bekam auch Bharath zu spüren, als er als damals
als Siebenjähriger in der Stadt ankam. "Niemand durfte den Bahnhof betreten,
1995, denn dort gab es einen Anführer, er hatte 30 Kinder unter sich. Nur
diese Kinder durften im Bahnhof Müll sammeln und betteln. Das war die Regel.
Ich wusste nicht, dass es diese Regel gab. Ich bin in den Bahnhof gekommen,
und häufig haben sie mich geschnappt und verprügelt."
Wer aber Aufnahme in
eine Gang findet lebt in einer Art Familie. Die Jungen passen aufeinander
auf, verteidigen sich gegen andere, halten zusammen. Wie die drei Jungen,
denen wir auf dem Rückweg vom Bahnhof begegnen. 12 bis 14 Jahre alt sind
sie, die T-Shirts sind schmutzig, doch die Gesichter strahlen. Die Jungen
ziehen einen Karren hinter sich her mit Säcken voller Plastikflaschen.
400 sind es, schätzt Bharath. Beim Verwerter bekommen Sie dafür 80 Rupien
für jeden, ein Euro dreißig - für einen Tag Arbeit.
Bharath muss keinen Müll mehr sammeln. Vor sechs Jahren ist er
losgekommen von der Straße. Durch Navajeevan und den Einsatz der
Helfer um Anu Dasaka und Father Koshy. Bharath hat Verantwortung
übernommen, hat andere Kinder beraten, nach Hause zurückbegleitet.
Doch die Verlockungen der Straße sind immer noch groß. "Es ist
schwierig, sich vom Leben auf der Straße loszusagen, denn es gibt
keine Regeln und Vorschriften. Eine freie Welt. Drogen nehmen, ins
Kino gehen, rauchen. Überall. Niemand fragt." Etwa die Hälfte der
Straßenkinder schaffen den Absprung. Viele gehen zurück zu ihren
Eltern, andere machen eine Ausbildung. Wer es nicht schafft, wird
Tagelöhner, Bettler oder stirbt jung.